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Wir dürfen Erfurt nie vergessen                                              Mai 2002

 

 

Vier Wochen sind die schrecklichen Ereignisse am Erfurter Gutenberg-Gymnasium jetzt her. Vieles wurde in der Zeit gesagt und geschrieben und mit Sicherheit auch viel Richtiges und Zutreffendes, aus verschiedensten Blickwinkeln, Ausdruck von Entsetzen, Trauer, Hilflosigkeit, aber auch Wut.

Mich persönlich hat in den Tagen nach der Tat vor allem wütend gemacht, dass über Waffen und Computerspiele mehr geredet wurde als über die Belange von Schülern und Lehrern, dass viel Betroffenheit öffentlich zur Schau getragen wurde und fast niemand danach gefragt hat, wie sich Kinder und Jugendliche in der Schule fühlen und die dort tätigen Erwachsenen auch! Und das finde ich deshalb so unendlich schlimm, weil 17 Menschen aufgrund eines fatalen Missverständnisses gestorben sind. Dieses Opfer darf nicht umsonst gewesen sein.

 

 

Das Missverständnis

 

In einer erschütternden Wiedergabe eines Gesprächs mit Kindern zu den Erfurter Ereignissen kam eine Sichtweise zum Ausdruck, die sehr zu denken geben sollte, sinngemäß, dass der Täter vielleicht seine Eltern bestrafen wollte, aber da man seine Eltern ja nicht umbringt, mussten die Lehrer dafür sterben. – Heißt das,  Lehrer sind minder wertvolle Menschen? Lehrer verkörpern eine Institution, die Schule. Wenn die Schule gehasst wird,  sieht kein Schüler, dass auch die Lehrer, jedenfalls etliche, unter der Schule leiden und mit den ihnen anvertrauten Kindern gar nicht unbedingt so umgehen können, wie sie es vielleicht selber gern machen würden, offen, ehrlich, menschlich, demokratisch, tolerant....Dass Lehrer auch Menschen sind, fällt dem einen oder anderen Schüler erst auf, wenn man außerhalb der Schule normal miteinander zu tun hat. Vor Lehrern hat man entweder Angst, im besten Fall Respekt, oder man nimmt sie nicht für voll und macht sie fertig. So oder so sterben nicht wenige Schüler und Lehrer viele kleine innerliche Tode, die Schülerselbstmorde und die ausgebrannten Frührentner-Kollegen sprechen eine deutliche Sprache als Spitze des Eisberges. Unsere Kollegen  in Erfurt mussten als Vertreter eines nicht sehr menschlichen Schulsystems ihr Leben lassen, mit Sicherheit nicht als die Menschen, die sie waren, Eltern eigener Kinder, Partner, Freunde von anderen Menschen. Auch Menschen, die sich wahrscheinlich des Täters und vieler anderer Kinder und Jugendlichen mehr hätten annehmen können, wenn der Beruf ihnen die Möglichkeiten dafür gelassen hätte mit kleineren persönlicheren Lerngruppen, weniger Streß, besserem Kontakt zu Eltern und vielem mehr. Die Schule, unser Schulsystem ist nicht allein schuld an der Katastrophe, aber sie ist auch nicht unschuldig. Wer jetzt noch dieses Unglück als Einzelfall betrachtet, hat von Schule keine Ahnung.

 

 

 

Reaktionen und Stimmung danach

 

 

Über die Diskussionen um verschärfte Waffengesetze und Verbote von Computerspielen können viele Schüler nur müde grinsen, wer eine Waffe haben will, kriegt auch eine, und wer am Bildschirm ballert, tut das oft gerade deshalb, damit er (selten sie) nicht wirklich zu realer Gewalt greifen muss, um Frust abzureagieren. Und was verboten wird, gewinnt dadurch an Interesse. Natürlich kann man das nicht so einfach und einseitig sehen, es ist schon richtig, Waffenerwerb nicht noch leichter zu machen und Gewaltspiele, Videos usw. nicht zu bagatellisieren, aber das reicht nicht aus. Das Klima stimmt nicht, weder in der Schule noch in der Gesellschaft. Gewalt hat viele Gesichter.

Aber das Klima, die Stimmung in der Schule scheint mir irgendwie weicher geworden zu sein und ich hoffe inständig, dass es so bleibt und dass ich mich nicht einfach nur täusche. Kollegen gehen nachsichtiger miteinander um, offener auf Schüler ein, Schüler sind doch eine Spur friedlicher.

Leider wird andererseits bei Auseinandersetzungen die Bemerkung über ein weiteres  Erfurt von Schülern in den Raum geworfen, Verständnis für die seelische Not des Täters ist - zum Teil aufgrund eigener Erfahrungen -  da, Verständnis für die Tat an sich wenig, aber nicht ausgeschlossen.

„Es ticken Bomben unter uns und wir müssen sie solange umarmen, bis sie aufhören zu ticken. Denn wenn wir uns nicht trauen ihnen in die Augen zuschauen, werden sie weiterticken. Und wenn sie explodieren, werden wir keine Zeit mehr haben zu sagen: die Anderen sind schuld.“  (Friedrich Ani in der „Welt“, gefunden im Forum: was in unseren Tageszeitungen steht)

 

 

Kinder endlich ernst nehmen

 

Mein Sohn hat sich einmal bitterlich darüber beschwert, dass Kindern immer nicht geglaubt wird. Sagen Erwachsene genau dasselbe, ist es auf einmal wahr. Vielen Erwachsenen scheint es wirklich schwer zu fallen, Kinder so zu akzeptieren, wie sie sind. Viel zu schnell sind wir dabei, unsere Vorstellungen, wie man zu sein hat und was man zu lernen hat, ungefragt von anderen zu verlangen, erst recht von Heranwachsenden. Viel zu wenig hören wir wirklich auf das, was die Kinder sagen wollen, wir schauen viel zu oberflächlich hin, um herauszufinden, was sie wirklich brauchen. Wir Großen mögen es überhaupt nicht, wenn wir vorgeschrieben bekommen, wie wir zu denken und zu handeln haben, aber von den Kleinen erwarten wir viel eher, dass sie Vorgaben akzeptieren, im schlimmsten Falle einfach parieren.

Lernen, Interesse, Engagement, soziales Verhalten  kann man aber nicht befehlen. Das muss wachsen bzw.  erhalten bleiben. Niemand lernt jemals wieder so viel und so schnell wie im Kleinkindalter. Und dort werden die Wurzeln für das ganze Leben gelegt. Bekommen Kinder nicht die Wärme und Geborgenheit, Sicherheit und Liebe, die sie für ein normales Urvertrauen brauchen, wird es schwer, ihnen später vermitteln zu können, dass sie etwas wert sind. Das ist wahrhaftig keine neue Erkenntnis. Erfahren sie zu wenig von der natürlichen Umwelt, von Kultur, von Miteinander, leidet auch ihre geistige Entwicklung.

 

Auch das Gegenteil von zuviel Betreuung und lauter gutgemeinten Hilfestellungen schaden den Kindern, sie müssen ihre eigenen, auch manchmal unschönen Erfahrungen machen dürfen, sie müssen mit Misserfolgen fertig werden wie auch durch Erfolge in ihren Anstrengungen bestärkt werden. Wie so oft liegt der Königsweg irgendwo in einer gesunden Balance zwischen den Polen. Wissenschaftliche Untersuchungen können uns dabei inzwischen sehr wohl viel helfen, aber das eigene Gefühl für den Umgang mit Kindern nicht völlig ersetzen. Vielleicht sollten sich die Erwachsenen viel öfter daran erinnern, wie sie sich als Kinder und auch als Schüler gefühlt haben. Wenn man selber schlechte Erfahrungen gemacht hat, kann man doch diese den Kindern nicht wieder genauso zumuten. Es gibt genug Gelegenheiten, in denen Kinder mit Frustrationen fertig werden müssen. Dann müssen nicht noch künstliche unnötige Kränkungen dazu kommen, wie sie leider durch unsere Art von „normaler“  Schule vorprogrammiert sind.

 

 

Eltern helfen und den Eltern helfen

 

Eltern wollen ihren Kindern auf dem Weg ins Leben helfen, brauchen aber inzwischen in einer Zeit der Klein- bis Kleinstfamilie, der Überflutung mit unnatürlichen Reizen, gesellschaftlicher Unsicherheit und auch purer materieller Not selber Hilfe. Nur haben sie auch Angst, gerade der Schule gegenüber die Schwächen einzugestehen und rechtzeitig sich darum zu kümmern, mit den Lehrern gemeinsam Wege zu finden, um mit Problemen fertig zu werden. Oder sie sind so davon überzeugt, dass ihre Kinder von Hause aus keine Probleme haben und Schwierigkeiten nur durch die Schule, Mitschüler, Lehrer hervorgerufen werden. Dann erlebt man Eltern nur noch als fordernd und sich beschwerend ohne die Bereitschaft zu Selbstkritik, womit sie ihren Kindern auch keinen Gefallen tun.  Dabei wollen Eltern und Lehrer doch eigentlich dasselbe, den Kindern alle Möglichkeiten für eine gesunde Entwicklung zu geben. Von daher sollte man doch zusammen arbeiten und nicht gegeneinander. Erwachsene müssen sich trauen, den Kindern zu vertrauen und ihnen etwas zuzutrauen, nicht alles reglementieren zu wollen. „Erfurt sollte uns lehren, professionelle Mitmenschen zu werden“ (F. Ani, s.o.)

 

 

Jetzt die Schule verändern, neu denken

 

Die Politik wird es nicht wirklich tun, etwas verändern können die unmittelbar Beteiligten besser. Andere Länder sind uns da weit voraus, dort überlegt man gemeinsam, wie Schule menschenfreundlich gestaltet werden kann und trotzdem, nein gerade deshalb auch viel leisten kann. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, bisher unvorstellbare Formen von Gewaltanwendung und damit verbundenem Leid haben Menschen durch Menschen erfahren. Deshalb müssen Menschen endlich auch bisher unvorstellbare Gedanken in die positive Richtung anfangen zu denken. Gewalt, Hass, alles Negative kann letztendlich nicht  durch noch mehr Gewalt und Hass beseitigt werden. Und wenn wir etwas aus der Erfurter Tragödie lernen können, dann dieses. Wenn wir die Schule nicht humaner machen können, wird diese Tragödie nicht die letzte sein. Und dann sind 17 Menschen umsonst gestorben.

Jeder von uns kann seinen Beitrag dazu leisten, dass es nicht so weit kommt, auch wenn jeder einzelne das Gefühl haben muss, fast nichts bewirken zu können, aber wenn wir offen und freundlich auf unsere Schüler zugehen und ihnen wirklich etwas zutrauen, werden wir überrascht sein, zu welchen Leistungen sie imstande sind. Wir müssen uns nur trauen zu vertrauen, auch wenn es Enttäuschungen und Rückschläge gibt. Das sind wir den Opfern von Erfurt schuldig.

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