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INTERVIEW MIT SCHULREFORMERIN ENJA RIEGEL

"Ich wollte die Revolution"

Lehrpläne, starrer Stundentakt, Geldmangel und - ach! - all die Sachzwänge: Deutschlands Lehrer wissen 1001 Gründe, warum Schulreformen scheitern müssen. "Schule kann gelingen!", behauptet indes Enja Riegel, 64. Bei SPIEGEL ONLINE erzählt die begeisterte Pädagogin, wie ihre Schule einen Pisa-Spitzenplatz erreichte und wieso Unterricht nie Dompteursarbeit bedeuten darf.

SPIEGEL ONLINE: Nach dem Pisa-Schock fuhren alle nach Skandinavien, es gibt das Ganztagsschulprogramm und den Willen zu Veränderungen - sind wir also auf dem Weg der Besserung?

Enja Riegel: Ich finde es gut, dass sich im Vorschulbereich und in der Grundschule etwas tut. Aber es gibt ein großes Tabuthema - die Sekundarstufe I von Klasse fünf bis zehn. Nach der vierten Klasse werden in Deutschland alle Schüler in drei verschiedene Töpfe einsortiert: Gymnasium, Realschule, Hauptschule. Das ist ein Skandal, schadet den Kindern und dem Land. Im weltweiten Pisa-Test hat sich gezeigt, dass alle Länder, in denen die Schüler bis zur neunten Klasse gemeinsam unterrichtet werden, besser sind als Deutschland. Es ist nicht zu verstehen, warum die Kultusministerkonferenz dazu eine Art Sprechverbot erteilt hat. Stattdessen müssen die Schüler jetzt häufig zentral überprüft werden. Mindeststandards sind notwendig, aber die dauernde Prüferei verbessert weder die Schüler noch die Schulen.

SPIEGEL ONLINE: Es blockieren also...

Riegel: ...alle. Lediglich die Bundesbildungsministerin tritt öffentlich für die gemeinsame Schule bis zur Klasse neun ein. Aber Bildung ist Ländersache, da hat sie nicht viel zu sagen.

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem hat Ihre Schule teilweise besser abgeschnitten als die hoch gelobten Pisa-Siegerländer. Was haben Sie anders gemacht?

Riegel: Die Helene-Lange-Schule war ein Gymnasium, das wir in eine radikale Reform-Gemeinschaftsschule umgewandelt haben. Drei Dinge haben wir ganz grundsätzlich geändert: Alle Kinder gehen von Klasse fünf bis zehn gemeinsam in die gleiche Klasse. Da sitzt also der Hochbegabte, der später in Harvard ein Stipendium bekommt, neben dem Sonderschüler, der zuvor an zehn verschiedenen Schulen scheiterte und bei uns einen guten Hauptschulabschluss erreicht. Der zweite Punkt sind die Lehrer. Sie unterrichten in der Regel zwei verschiedene Fächer, in manchmal bis zu zwölf verschiedenen Klassen à 35 Schüler. Das kann niemand auf Dauer aushalten, das ist kein Unterrichten, sondern Dompteursarbeit. An der HLS unterrichten deshalb immer acht Lehrer im Team einen Jahrgang von vier Parallelklassen und bleiben bei ihren Schülern bis Klasse zehn. Das heißt: viel Kontinuität, viel Überschaubarkeit, die Lehrer kennen ihre Schüler sehr gut. Das geht aber nur, wenn alle Lehrer zu ihren studierten Fächern noch zwei bis drei Fächer zusätzlich unterrichten. Die Lehrer haben dadurch gelernt, dass sie Schüler unterrichten und nicht Fächer. Eine fundamentale Kehrtwende, die Zeit und Arbeit kostet, aber Zufriedenheit bringt. Der Krankenstand hat sich nach dieser Änderung halbiert, obwohl die Lehrer länger in der Schule sind.

SPIEGEL ONLINE: Und der dritte Punkt?

Riegel: Die Schüler lernen bei uns anders. In jedem Halbjahr gibt es ein großes, fächerübergreifendes Projekt, zum Beispiel in Klasse sieben das Thema Wasser. Die Projekte dauern sechs bis acht Wochen und umfassen ungefähr die Hälfte der Unterrichtszeit, die andere Hälfte ist normaler Fachunterricht. Im Projekt haben die Schüler die Möglichkeit, eigenen Fragen nachzugehen und selbst zu forschen. Sie sind zum Beispiel im Klärwerk oder am Rhein, sprechen mit Experten, benutzen die Bibliothek und das Internet. Am Ende steht eine große Präsentation. Da werden Eltern eingeladen, Verwandte und Freunde. Die Schüler bekommen als Rückmeldung: "Das ist ja toll, was ihr gemacht habt." Der Stolz über das Erreichte und die Art des Arbeitens führt dazu, dass das Gelernte auch behalten wird. Schüler vergessen das nicht, wenn sie mit Herz, Verstand und allen Sinnen dabei waren.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt alles sehr gut. Aber Sie selbst wurden am ersten Tag als Schulleiterein vom Kollegium in schwarzer Trauerkleidung begrüßt - wie konnten Sie die Widerstände gegen Ihre Ideen überwinden?

Riegel: Das waren zunächst nicht Widerstände gegen meine Ideen, sondern gegen meine Person. Die hätten lieber einen Kollegen gehabt, mit dem sie alle befreundet waren, und gern ein ruhiges Leben geführt. Als das Kollegium nach einem Jahr gemerkt hat, die will was, die hat Visionen, da gab es eine große Bereitschaft mitzumachen. Die Malaise ist doch, dass viele Schulleiter Bürokraten sind und sich nur an Erlassen festhalten oder Angst haben, etwas selber zu entscheiden.

SPIEGEL ONLINE: Sie waren einst selbst Schülerin an der HLS. Was war das für ein Gefühl, plötzlich die Macht zu haben, selbst all das anders zu machen, was Sie früher gestört hat?

Riegel: Nein, nein, es war nicht das Gefühl, jetzt hab ich Macht, jetzt gebe ich es euch. Ich habe als Schülerin auch sehr gute Erfahrungen in dieser Schule gemacht. Aber als ich 1970 als Lehrerin zurückkam, dachte ich, hier ist die Zeit stehen geblieben. Ich war eine rabiate Verfechterin einer totalen Veränderung von Schule und bin enttäuscht wieder weggegangen. Ich hatte damals eine vollkommen blauäugige Vorstellung von der Welt und wollte mit den Arbeiterkindern die Revolution machen. Deshalb bin ich an eine Gesamtschule in einem Industrievorort gegangen. Da habe ich aber schnell gemerkt, was ich für Flausen im Kopf hatte - von wegen Revolution und mit den Arbeiterkindern alles radikal verändern. Die waren viel konservativer als die bürgerlichen Kinder, die wollten Ordnung, Sauberkeit und handfest lernen.

SPIEGEL ONLINE: Ein Problem, wenn man beispielsweise fächerübergreifenden Unterricht macht, sind die starren Lehrpläne. Wie lässt sich das vereinbaren?

Riegel: Ich kann nur jeden ermutigen, mit Lehrplänen großzügig umzugehen und nicht zu versuchen, sie einzuhalten. Dazu gehört aber ein Schulleiter, der dafür die Verantwortung übernimmt und die Lehrer schützt. Wir haben Themen ausgewählt, die sich für einen exemplarischen Unterricht eignen. So beschäftigen sich die Schüler in Geschichte intensiv mit den Römern, statt durch sämtliche antiken Hochkulturen durchzujagen. Sie begreifen an einem Beispiel, wie eine Hochkultur entsteht, wie ihr Niedergang zu erklären ist und wodurch sie bis heute weiterwirkt. Wichtig ist nicht das Anhäufen von Wissen, sondern das Anwenden des Gelernten und die Erinnerung daran. Deshalb haben ja unsere Schüler bei Pisa so gut abgeschnitten: Sie haben einfach das Lernen gelernt.

SPIEGEL ONLINE: Oft scheitern Schulreformen am Geld. Wie sind Sie damit umgegangen?

Riegel: Die Helene-Lange-Schule kriegt keinen Pfennig mehr als andere Schulen, das ist ein Vorurteil. Wir haben immer Geld gehabt, aber es nicht vom Staat bekommen. Das schönste Beispiel ist, dass die Schüler selber putzen. Das war ein langer Kampf mit der Stadt Wiesbaden und der Putzfirma, die uns wegen Kinderarbeit verklagen wollte. Aber wir haben gewonnen und putzen jetzt seit 18 Jahren selber.

SPIEGEL ONLINE: Wie finden Kinder das?

Riegel: Die denken gar nicht darüber nach, die finden das selbstverständlich. Journalisten fragen immer: "Warum putzt ihr denn die Schule selber?". Da sagen die: "Na damit es sauber ist." Es gab noch nie den Wunsch oder Antrag auf Putzfrauen. Von den etwa 27.000 Euro im Jahr werden Schauspieler oder Künstler bezahlt, die bei Projekten in der Schule mitarbeiten. Wir spielen ja wie verrückt Theater, jeder Schüler hat in seiner Schulzeit acht Wochen nur Theater.

SPIEGEL ONLINE: Sie behaupten, dadurch werden die Schüler besser in Mathe - wieso denn das?

Riegel: Nicht nur in Mathematik. Sie werden selbstbewusst. Sie wissen, wie sie sich darstellen und wie sie wirken. Wer solche Erfahrungen gemacht hat, kann auch in anderen schwierigen Situationen bestehen. Den schreckt Mathematik nicht mehr oder Physik. Theaterspielen hilft auch im späteren Leben, im Beruf, beim Studium oder im Vorstellungsgespräch.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben schon wieder neue Projekte und planen jetzt eine Schule in Afghanistan.

Riegel: Ja, ich gründe mit einer Gruppe von Leuten aus der Montessori-Pädagogik und einem afghanischen Arzt eine deutsch-afghanische Schule in Dschalalabad. Es gibt Vorgespräche mit dem Gouverneur, der uns ein großes Grundstück zur Verfügung stellt. Als Erstes wollen wir Studenten finden, die hier eine Ausbildung erhalten. Gleichzeitig wollen wir mit dort ansässigen Architekten mit dem Bauen anfangen - alles mit einheimischen Kräften, wir wollen kein Millionenprojekt, das als Fremdkörper angesehen wird. Die Mädchen und Jungen sollen zweisprachig unterrichtet werden, Deutsch und Afghanisch. Die Schule soll aber auch ein Ort sein, wo Erwachsene lernen können, Werkstätten eingerichtet werden und Frauen an Alphabetisierungskursen teilnehmen.

SPIEGEL ONLINE: Da wartet eine Menge Arbeit...

Riegel: Ich bin jetzt 64, noch einigermaßen gesund und neugierig, da kann man ja noch viel machen.

Das Interview führte Oliver Voss

Enja Riegel

Enja Riegel leitete 19 Jahre die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden - eine Modellschule der Unesco und für Deutschland einer der wenigen Lichtblicke beim Pisa-Test. In Kernbereichen wie Lesen oder Naturwissenschaften erreichten die Wiesbadener Schüler höhere Punktzahlen als die in den Siegerländern Finnland und Südkorea.

Die "rote Enja" war auch einmal als Kultusministerin unter dem ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel im Gespräch. Seit Februar 2003 ist Enja Riegel pensioniert und hat über ihre Erfahrungen das Buch "Schule kann gelingen! Wie unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen" (Fischer-Verlag) geschrieben. Nun arbeitet sie an der Gründung einer privaten Gesamtschule in Wiesbaden und einem Schulprojekt in Afghanistan.

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